Rede von Elisabeth Paul, 1. Vorsitzende der Deutsch-Israelischen Gesellschaft Aachen e.V.
Ich freue mich, dass heute so viele Menschen gekommen sind, um gemeinsam 75 Jahre Grundgesetz zu feiern, die Basis der demokratischen Verfassung unserer Bundesrepublik, also einen doppelten Geburtstag.
75 Jahre Grundgesetz bedeutet auch: 75 Jahre Freiheit, 75 Jahre Frieden, 75 Jahre „offene Gesellschaft“.
Und dass Sie und Ihr heute hier so zahlreich erschienen sind, bedeutet ein klares Bekenntnis zu diesen Werten, zu unserer Demokratie, für Völkerverständigung, für Freiheit, Menschenwürde und Selbstbestimmung, gegen Rassismus und gegen Antisemitismus in all seinen Erscheinungsformen und gegen Rechtsextremismus.
Und das ist dringender denn je, denn Demokratie ist kein Selbstläufer, sie braucht Wachsamkeit und die ständige Unterstützung der Menschen, die in ihr leben, Menschen wie Ihnen und Euch, die seit Monaten auf die Straße gehen und Gesicht zeigen für unsere Demokratie.
§1 des Grundgesetzes lautet „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist die Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Unser Grundgesetz garantiert die Entfaltung der Persönlichkeit, die freie Meinungsäußerung, die Gleichheit von Frauen und Männern, die Glaubensfreiheit, „…..sofern die Rechte anderer nicht verletzt werden.“
Nur in einer liberalen Demokratie kann man als Mensch entspannt leben, auch wenn man nicht mit der jeweiligen Regierung in allem übereinstimmt.
Doch der Weg Deutschlands zum Grundgesetz führt durch die Erfahrungen zweier Weltkriege, durch die Abgründe des Nationalsozialismus, durch die Menschheitsverbrechen des Holocaust. Und so ist das Grundgesetz die rechtliche Antwort auf die Erniedrigung und Auslöschung der Individuen durch ein System planmäßiger Willkür, systematischer Erniedrigung und letztlich Ermordung im sogenannten Dritten Reich.
Und daran erinnert die Ausstellung des Gedenkbuchprojekts. Ca 1000 Kurzportraits von Holocaustopfern, nicht nur 6 Millionen jüdischen Menschen, sondern auch Roma und Sinti, Homosexuellen, sogenannten Asozialen, Kommunist*innen, Sozialist*innen und Sozialdemokrat*innen, Zeug*innen Jehovas, kurz, alle, die die menschenverachtende völkische Ideologie als nicht lebenswert erachtete.
Es ist immer wieder wichtig, zu erinnern, den Opfern ein Gesicht zu geben, die wahnsinnige Zahl mit Einzelschicksalen zu konkretisieren zu versuchen, das Ausmaß etwas begreiflich zu machen.
Seit Jahren erleben wir weltweit und auch in Europa ein Erstarken rechtspopulistischer und rechtsextremer Parteien, ob in Schweden, Finnland, Polen, Ungarn, Spanien, Italien oder auch in unserem Nachbarland, den Niederlanden.
Und auch unsere Demokratie und die Freiheiten, die in ihrer Verfassung festgeschrieben sind, sind bedroht von Verfassungsfeind*innen innerhalb und außerhalb des Parlaments.
Die Veröffentlichung der „Remigrationspläne“, die die AFD auf ihrer „Potsdamer“ Konferenz diskutierte, hat die Menschen aufgeschreckt, erschaudern lassen und wecken schlimmste Erinnerungen.
Sie sind konkret, betreffen Verwandte, Freunde, Nachbarn, letztlich auch einen selbst.
Sie, die unseren Wohlstand mitgeschaffen haben, die seit Generationen mit und unter uns leben, sollen abgeschoben, vertrieben, ihrer Heimat beraubt werden.
Das dürfen wir nicht zulassen. Wir müssen uns schützend vor sie stellen!
Doch dürfen wir nicht vergessen, dass auch jüdische Menschen sich bedroht fühlen. Wenn auch die AFD vorgibt, jüdisches Leben zu schützen, so ist dies nur ein weiterer Trick, um die Gesellschaft zu spalten.
In den 10 Jahren, in denen diese Partei in Parlamenten, Talkshows und sozialen Medien ihr Unwesen treibt, verbreitet sie ihre rassistische, antisemitische und völkische Ideologie, hetzt gegen Minderheiten und bietet scheinbar einfache Lösungen an.
Ob sie von „Umvolkung“ sprechen oder von „wohltemperierten Grausamkeiten und dem unvermeidlichen Verlust einiger Volksgruppen“, ob es das „Mahnmal der Schande“ (alias Holocaustmahnmal), ist oder die Shoah als „Vogelschiss in der Geschichte“.
Ob es antisemitische Chiffren sind, wir die Geldeliten, die Globalisten oder Weltverschwörungsideologien, wie wir sie in der Coronazeit ausgiebig gehört haben, wo das internationale Judentum für die Pandemie verantwortlich gemacht wurde.
Der Holocaust kam nicht aus heiterem Himmel. Nein, er hatte eine Vorgeschichte. Und die begann mit Theorien, mit Phantasien von wertem und unwertem Leben, die man schon in den zwanziger Jahren in Hitlers „Mein Kampf“ hätte lesen können.
Es folgten konkrete Ausgrenzungen, Markierungen von Menschen, die als nicht deutsch aussortiert wurden, mit dem Boykott jüdischer Einrichtungen und gipfelte schließlich im Holocaust.
Und aus diesem Menschheitsverbrechen, das in der Geschichte einzigartig ist, ist die Erkenntnis und das Bekenntnis „Nie wieder“ gewachsen, das inzwischen zu einer fast inflationär genutzten Floskel zu verkommen droht.
Füllen wir es wieder mit Leben!
Bekennen wir uns zu unserer freiheitlich demokratischen Grundordnung!
Agieren wir als Demokrat*innen gemeinsam und machen keine neuen Fronten auf! Bilden wir breite Bündnisse gegen die wirklichen Feinde unserer Demokratie!
Beschleunigt durch die Erfahrungen der Shoah wurde 1948 auf Basis eines UN-Beschlusses der Staat Israel gegründet, um Jüdinnen und Juden nach jahrtausendelanger Verfolgung eine „sichere Heimstätte“ zu gewähren.
Und die Sicherheit dieses einzigen jüdischen Staates weltweit, die als Lebensversicherung für Jüdinnen und Juden auf der ganzen Welt fungiert, ist Teil der deutschen Staatsräson.
Doch weder ist die Hoffnung auf einen sicheren Hafen für jüdische Menschen weltweit in Erfüllung gegangen, noch wird die deutsch Staatsräson Israels gelebt.
Wir erleben seit dem fürchterlichen Überfall der Hamas am 7. Oktober letzten Jahres einen unvorstellbaren Hass auf den Staat Israel als auch auf jüdische und israelische Menschen weltweit.
Man kann Israels Politik und Netanyahu kritisieren, aber das Recht auf Selbstverteidigung muss man dem jüdischen Staat zugestehen. Ob die Kriegsführung verhältnismäßig ist, wer kann das wirklich beurteilen angesichts einer hybriden Kriegsführung, bei der die Hamas sich hinter der Zivilbevölkerung und unter zivilen Einrichtungen versteckt.
Die Frage, die sich mir immer wieder stellt ist die, warum nicht mit gleicher Vehemenz, mit der Israel aufgefordert wird, einem Waffenstillstand zuzustimmen, die Hamas aufgefordert wird, die Geiseln frei zu lassen und die Waffen niederzulegen.
Der Terror der Hamas hat Jüdinnen und Juden weltweit traumatisiert und sendet weltweit Botschaften aus, sie zu töten.
So erleben wir derzeit weltweit und auch in unserem Land, auch in unserer Stadt einen Antisemitismus in all seinen Ausprägungen. Er ist nicht nur rechts zu verordnen, sondern ebenfalls links, in der Mitte der Gesellschaft und auch in muslimischen Kontexten. Dabei ist der israelbezogene Antisemitismus, der klar zu unterscheiden ist von legitimer Kritik an der israelischen Regierung, derzeit der aggressivste, macht er doch Israel zu dem Juden unter den Staaten und nimmt jüdische Menschen weltweit in die Verantwortung für das, was in Gaza geschieht.
Es kann und das darf nicht sein:
Dass wir 75 Jahre Grundgesetz feiern und zulassen, dass das fundamentale Grundrecht der Gleichheit für „nicht deutsche Menschen“ und für Jüdinnen und Juden nicht gilt,
Dass Jüdinnen und Juden allein auf Grund ihres „Jüdischseins“ ausgegrenzt, bespuckt, beschimpft, ausgeschlossen werden,
dass Jüdinnen und Juden hier bei uns verantwortlich gemacht werden für das, was in Gaza geschieht
dass Jüdinnen und Juden Angst um ihr Leben haben,
dass Jüdinnen und Juden sich wieder unsichtbar machen.
Das Schicksal und das Leid der Palästinenser*innen in Gaza ist schwer zu ertragen. Es berührt jede und jeden, auch uns von der Deutsch-Israelischen Gesellschaft. Doch sehen wir die Verantwortung für dies unermessliche Leid bei der Hamas, die ihre eigene Bevölkerung in Geiselhaft genommen hat. Sie allein ist in der Lage, das Leid sofort zu beenden, wenn sie die Geiseln frei lässt und die Waffen niederlegt.
Was mir besonders am Herzen liegt, ist,
dass wir den Gesprächsfaden untereinander nicht abreißen lassen, und dies meine ich nicht nur unter gesellschaftlichen Gruppen, sondern auch in der Politik
dass wir aus der „Wir und Ihr-Rhetorik“ herausfinden und Gemeinsamkeiten erkennen,
dass wir uns zuhören
dass wir andere Meinungen ertragen
dass wir das Leid der jeweils „anderen“ Seite versuchen, zu verstehen
dass wir keinen Hass zulassen
Wir alle, die wir in diesem Land leben, sind Menschen, wie Michel Friedmann es in seinem eindrucksvollen Vortrag formulierte, jüdische Menschen, christliche, muslimische, atheistische, männliche, weibliche und queere Menschen. Alle haben wir nach unserer Verfassung dieselben Rechte, die unantastbare Menschenwürde, die Glaubens- und Meinungsfreiheit und vieles mehr.
Nutzen wir diese Grundrechte konstruktiv zur Festigung unserer Gesellschaft und lassen wir es nicht zu, dass Menschen diese grundrechtlich verbrieften Freiheiten dazu nutzen, unsere Demokratie und eben diese Freiheiten abzuschaffen.
Feiern wir heute diesen doppelten Geburtstag. Senden wir ein starkes Signal in unsere Gesellschaft und in die Welt für Demokratie gegen die Autokrat*innen, Imperialist*innen, Theokrat*innen ………..