Dieser Essay basiert auf der Rede, die Christoph David Piorkowski auf der Gedenkveranstaltung der DIG Aachen anlässlich des ersten Jahrestages des 7. Oktober gehalten hat.
Die Antisemiten werden den Juden den 7. Oktober nicht verzeihen
Mit dem 7. Oktober 2023 ist für Juden und antisemitismuskritische Menschen ein neues Zeitalter angebrochen. Das geistige Virus des Judenhasses hat eine neue Mutationsstufe erreicht. Ein Essay.
Von Christoph David Piorkowski
Mit dem genozidalen Massaker der Hamas – einem Ereignis, das bis heute keinen Begriff gefunden hat, der die Spezifik dieses grausamen Verbrechens adäquat zu bezeichnen vermöchte – mit dem 7. Oktober 2023 also sind Jüdinnen und Juden überall auf dem Globus in einer veränderten Welt aufgewacht. Natürlich hat sich das Ressentiment auch vor diesem Tag allenthalten geäußert – insofern ist 10/7 keine bloße Zäsur. Und doch, so scheint es vielen Betroffenen, ist in der Folge etwas anders geworden, Antisemitismus als Virus des Geistes hat eine neue Mutationsstufe erreicht; für den Großteil der Menschheit war der 7. Oktober spätestens am 8. Oktober vorüber, für Juden und mit Juden solidarische Personen hat der 7. Oktober an jenem Tag begonnen – seither ist jeden Tag 7. Oktober.
Die Selbst-Gerechten unter den Völkern blieben keine 24 Stunden lang stumm. Die Leichen des antisemitischen Massakers, das die Hamas in Israel verübt hat, waren noch nicht einmal sämtlich geborgen, da startete in zahllosen Ländern der Welt schon die schuldprojektive Empörungsmaschine. Angesichts der antizipierten Vergeltung, die Israel in Gaza wohl ausüben würde, fantasierten die notorischen Israelhasser schon von einem Genozid an Palästinensern, noch bevor die IDF ihren Marschbefehl erhielt. Selbst durch Massenvergewaltigung und Folterung von Frauen oder das Töten von Kindern im Beisein ihrer Eltern wurde das binäre Wahrnehmungsmuster, in dem die Israelis als bösartige Täter und die Palästinenser bloß als Opfer erscheinen, vielen Menschen nicht als das offenbar, was es ist: Das Produkt eines antisemitischen Wahns, einer Ideologie, in welcher „die Juden“ auf alle Zeit die Rolle des Bösen bekleiden.
Das antijüdische Ressentiment folgt keiner einfachen Abwertungsformel, ist anders gelagert als klassischer Rassismus. Antisemitismus definiert seine Objekte als schwach und übermächtig zugleich. Die Juden werden zwar als Schädlinge gedeutet, doch auch als heimliche Herrscher der Welt. So ist Antisemitismus kein bloßes Vorurteil, sondern eine Ideologie mit Allerklärungsanspruch, die ein gesundes und grundgutes Volk mit einer krankhaften und bösen Elite kontrastiert – oder auch die reinen Indigenen Palästinas mit den angeblich „raumfremden“ Kolonisatoren.
Wo rassistische Projektionen ihre Objekte vornehmlich abwerten, gilt „der Jude“ als nachgerade teuflischer Frevler, als Urgrund und Prinzip alles Bösen auf der Welt, als ein Zerstörer der natürlichen Ordnung, und nicht zu akzeptierende Form der Existenz.
Seit dem Holocaust zeigt sich Antisemitismus indes häufig in einer sich selbst verleugnenden und mithin oberflächlich camouflierten Form. Seine aktuell häufigste Artikulation findet er in sogenannter „Israelkritik“, in der klassisch antisemitische Motive wie Kindermord, Rachsucht, Medienkontrolle, Zersetzung, Täuschung und heimliche Machenschaften häufig eins zu eins aufzufinden sind – wie etwa die umfangreichen empirischen Studien der Kognitionswissenschaftlerin Monika Schwarz-Friesel illustrieren. So lässt sich das Ressentiment artikulieren, ohne „die Juden“ beim Namen zu nennen. Im „Palli-Washing“ des Antisemitismus zeigt sich die Umweg-Kommunikation des postnazistischen Antisemitismus, der sich als moralische Haltung verkauft. Léon Poliakov erklärte zu Recht, Israel sei heute der „kollektive Jude“, ja gleichsam der „Jude unter den Staaten.“
Dabei wird Judenhass immer zu Notwehr erklärt, ist geprägt durch die Umkehr von Täter und Opfer – wie einst Adorno und Horkheimer schrieben, werden die Juden vom absolut Bösen als das absolut Böse gebrandmarkt. Dieses Muster des völkischen Antisemitismus lässt sich auch auf den von Islamisten übertragen, welche sich als Schüler der Nazis offenbaren, die sich anschickten, Teile der arabischen Welt in den 1930er und 40er Jahren verschwörungsantisemitisch zu verhetzen – wodurch der Antisemitismus auch zur maßgeblichen Ursache (und nicht bloß zur Wirkung) des Nahostkonflikts wurde.
Der Wille zur Vernichtung des „Zersetzers der Ordnung“ und personifizierten Prinzips der Moderne, des Sündenbocks für alle Verwerfungen der Welt wird den Objekten dieses uralten Hasses in pathisch-projektiver Weise unterstellt. So scheint es legitim eben diese zu vernichten. Wenn sie sich dann wehren, und sei es mit Krieg, fühlt sich der antisemitische Geist in seiner krankhaften Wahrnehmung bestätigt, dass die Juden die eigentlichen Völkermörder seien. Dabei steht dieser hyperbolisierende Vorwurf bereits seit etlichen Jahren im Raum, dafür braucht es den aktuellen Gaza-Krieg nicht, der zwar auf rücksichtslose Weise geführt wird, doch sicher keine Absicht zur Vernichtung impliziert. Das Narrativ ist gefeit gegen jede Empirie. Der Hasser schnappt nach jedem empirischen Krümel, der ihn in seiner wahnhaften Weltsicht bestätigt, doch käme er auch ohne Erfahrungssplitter aus. Im Maschinenraum des Geistes werden im Akkord die gleichen projektiven Bilder produziert, die fremde Erfahrung mit Bekanntem ummantelt, bis sie sich in letzterem aufgelöst hat. Statt einer mimetischen Annäherung der Wahrnehmung an die Wirklichkeit, wird eine Identifikation des Wirklichen mit der – ob der Macht des antisemitischen Ressentiments – vor jeder Erfahrung installierten Wahrnehmungsapparatur vollzogen. Oder wie Jean-Paul Sartre formulierte: Nicht die Erfahrung schafft das Bild vom Juden, sondern das Vorurteil fälscht die Erfahrung.
Dabei können es Antisemiten nicht ertragen, Jüdinnen und Juden als Opfer zu erleben. So erklärt sich der gleichsam pathologische Reflex, die Shoah und nun auch den 7. Oktober zu verleugnen oder zu bagatellisieren – das Pogrom gar als Akt der Befreiung zu feiern.
Man muss sich das klarmachen: Die Hamas hat ihre Grausamkeit dokumentiert, sie hat die Bilder ihres Menschheitsverbrechens als Fortsetzung dieses Verbrechens benutzt, die Videos der Gräuel als Waffen verwendet, um das jüdische Trauma-Gedächtnis zu treffen. Die Botschaft des Terrors war unmissverständlich: „Ihr seid auf alle Zeit von Vernichtung bedroht. In eurer vermeintlichen Schutzstätte genauso, wie an jedem anderen Ort auf der Welt“. Nicht von ungefähr haben die Hamas-Terroristen eine Woche nach dem 7. Oktober den sogenannten „Tag des Zorns“ ausgerufen und Jüdinnen und Juden zu Freiwild erklärt.
Dann aber passierte folgendes: Trotz oder vielmehr wegen der öffentlichen Verlautbarung ihrer genozidalen Absichten, hat die islamistische Mörderbande ihre Bildpolitik bald radikal geändert. Nun postete man nicht mehr die Fotos von gefolterten Frauen, denen man eine Kugel in den Intimbereich geschossen hatte, sondern jene von totgebombten Kindern in Gaza. Die Hamas und ihre antisemitische Schutzmacht, das klerikal-faschistische Mullah-Regime, scheinen sich mit Blick auf die jüdischem Leben gegenüber völlig empathielose Reaktionsweise weitester Teile der Weltöffentlichkeit – die sich höchstens kurz an den Hamas-Gräuel störte und anschließend den Judenstaat dämonisierte – von Anfang an sicher gewesen zu sein. Man konnte sich das öffentliche Massaker leisten, und wusste, dass man schließlich doch als Opfer gelten würde.
Bald wurde von den großen Medienhäusern der Welt, von New York Times, CNN, BBC und vielen anderen fast ausschließlich über das Leiden der palästinensischen Bevölkerung berichtet, während der 7. Oktober und die israelischen Geiseln allerhöchstens noch als Fußnote vorkamen.
Die für den Antisemitismus maßgebliche Umkehr von Täter und Opfer, von Ursache und Wirkung findet sich nicht zuletzt in den Nahost-Diskursen der seriösen bürgerlichen Mitte der Gesellschaft – auch dieser Tage wird das allenthalben offenbar.
Das Gros der Rezeption auch westlicher Medien des Krieges zwischen Israel und Hisbollah, stempelt den jüdischen Staat zum Aggressor, der den Konflikt nun grausam eskaliere. Dass die vernichtungsantisemitische Hisbollah – ein Export der islamischen Revolution – vor allem deshalb ins Leben gerufen wurde, um als Proxy der Mullahs gegen Israel zu kämpfen, und die radikal-islamistische Miliz aus dem Libanon fast jeden Tag Raketen abfeuert, scheint für viele Menschen dabei kaum von Belang. So wie im Nahost-Diskurs selten erwähnt wird, dass die Nakba – die Flucht und Vertreibung von etwa 700.000 Palästinensern – sich in Reaktion auf den Angriffskrieg vollzog, den ein breites Bündnis aus arabischen Staaten gleich nach der Staatsgründung Israels vom Zaun brach. Als wäre es die jüdische Seite gewesen, die den Teilungsplan der Vereinten Nationen von 1947 abgelehnt hätte – der Jischuv war es, der die Zwei-Staaten-Lösung wollte, die arabische Seite aber lehnte sie ab, man wollte keine jüdische Präsenz in Palästina. Und viele wollen diese bis heute nicht dulden: So stimmen nach neueren Umfragen zum Beispiel 77,7 Prozent der Menschen im Westjordanland und 70,4 Prozent der Menschen in Gaza einer rein palästinensischen Einstaatenlösung zu, also einer, die auch einen solchen Staat ablehnt, in dem beide Völker zusammenleben würden. „From the river to the sea“ meint Vertreibung und Vernichtung.
Die jüdisch-israelische Sicht auf die Dinge, die Notwendigkeit, das Überleben zu sichern, der Umstand, dass der einzige jüdische Staat mit der Größe des deutschen Bundeslands Hessen seit seiner Gründung von Vernichtung bedroht ist und es sich nicht leisten kann, Kriege zu verlieren – all das spielt in vielen Berichten keine Rolle.
Um hier nicht missverstanden zu werden: Das Leiden der Menschen in Gaza ist furchtbar, jedes tote Kind ist eines zu viel, und auf jeden Fall muss man vieles an der israelischen Kriegsführung, an der Regierung Netanjahu und auch an der Gewalt rechtsreligiöser Siedler im Westjordanland kritisieren. Doch die Antisemiten von rechts und links, aus der Mitte und aus dem islamistischen Lager interessieren sich nicht für die Kinder in Gaza, die die Hamas als Schutzschild missbraucht. Sie sind bloß ein nützliches Mittel zum Zweck, um Hass mit Humanität zu ummanteln und den Antisemitismus als ehrbar auszugeben. Beinahe obsessiv haben Organe der UN, weite Teile der weltweiten Presse, Kunstszenen sowie akademische Milieus auf Israels Einmarsch in Gaza gestarrt. Keine andere Gewalt auf der Welt produziert eine so intensive Empörung. „No Jews, no News“ ist der implizite Leitfaden antisemitischer Affektökonomie. Israelbezogener Antisemitismus grassiert auch ohne das Leiden in Gaza. Er stellt sich an diesem lediglich scharf, um sich dann hemmungslos auszuagieren. So waren die Bomben ein beruhigender Balsam für irritierte antisemitische Seelen. Die kognitiven Dissonanzen, die die Nachricht von enthaupteten Babys womöglich bei manchen notorischen Israelhassern bewirkt hatte, waren augenblicklich aufgelöst. Endlich schien die empirische Welt wieder komplett mit der ideologischen Betrachtung versöhnt. Gut war wieder gut, und Böse wieder böse.
Welche Wirkungen haben die Attacke der Hamas, und die israelische Antwort darauf, in Gesellschaften rund um den Globus entfaltet?
10/7 hat die traurige Erkenntnis bestätigt, dass selbst ein eliminatorischer Antisemitismus, vor dessen Grausamkeit die menschliche Sprache versagt, weiteren Antisemitismus erzeugt, anstatt dessen Kritik durch die Mehrheitsgesellschaft.
Der antisemitische Vernichtungsexzess, den die Hamas in aller Offenheit vollführt hat, und der ihre bereits in der Gründungscharta freimütig publizierte Absicht widerspiegelt, hat bei den allermeisten Menschen auf dem Globus gerade nicht dazu geführt, sich gegen Judenhass zu stellen. Stattdessen verzeichnen etwa jüdische Museen seit dem 7. Oktober einen Rückgang der Besucher. Stattdessen vernimmt man ein dröhnendes Schweigen, auch von Menschen, die man eigentlich als Freunde vermeinte. Stattdessen bricht das schwelende Ressentiment in den verschiedensten Segmenten der Gesellschaft nun immer aggressiver und unverhohlener auf. Der Judenhass des Einen führt zum Judenhass des Nächsten, die Mauern der postnazionalsozialistischen Tabuzone offener Feindschaft gegen Juden waren immer schon wacklig und stürzen jetzt ein.
Das Klima ist schon vor 10/7 rauer geworden: Laut einer Studie der EU-Agentur für Grundrechte (FRA) haben 80 Prozent der europäischen Juden in den letzten Jahren einen deutlichen Anstieg antijüdischen Hasses erlebt. Alle diesbezüglichen Erhebungen zeigen, dass sich die Lage nun noch einmal verschärft. Wir erleben in Europa und den USA eine Flutwelle antisemitischer Gewalt, wie seit 1945 nicht mehr. Von Judenhass getragene Großdemonstrationen in Städten wie London, Paris oder Berlin, wo „antiimperialistische“ Linke mit Islamisten im Gleichschritt marschieren, während die postkolonial geprägte Academia der selbstgerechten Rage der Straße sekundiert. Gewalt gegen jüdische Einrichtungen, Schändungen von Orten des Holocaustgedenkens. Bedrohungen von und Angriffe auf jüdische Studenten und jüdische Schüler, sowie Journalisten und Politikerinnen, die sich gegen Judenhass positionieren. Markierungen von Häusern, die von Juden bewohnt werden, Brandanschläge auf Synagogen und antisemitismuskritische Einrichtungen, Mobbing und entgrenzte Hasspropaganda auf Tik Tok, Instagram, Youtube und X. Aktuell wird eine ganze Generation auf Tik Tok und Co. in den Kaninchenbau antisemitischer Verschwörungsmythen hineingetrieben. Insbesondere jüngere Menschen, so zeigen es Umfragen aus den USA, neigen dazu, Israel zu dämonisieren.
Was wir leider wenig bis gar nicht erleben, sind große Solidaritätsdemonstrationen, auf denen nichtjüdische Menschen den Terror der Hamas und den Terror von Antisemiten in Europa als solchen benennen und dagegen aufbegehren. Stattdessen zieht überall der Mob durch die Straßen, judenfeindliche Symbole und Parolen sind im öffentlichen Raum oft normalisiert, nicht zuletzt an zahlreichen Universitäten, die die Elite von morgen hervorbringen.
Juden, die in der Diaspora leben, müssen tagtäglich mit Gewalt kalkulieren, wenn sie es wagen, sich als Juden zu zeigen. In der U-Bahn in Berlin eine Kippa zu tragen, in Wien auf der Straße Hebräisch zu sprechen – eigentlich selbstverständliche Handlungen werden sich wohl manche lieber zweimal überlegen. Öffentliches jüdisches Leben in Europa muss sich notgedrungen hinter Panzerglas ereignen. Wie unfassbar traurig und beschämend das ist.
Doch bei sehr vielen Menschen in der Gesellschaft ruft der Antisemitismus nicht mal ein Achselzucken hervor. Und während Juden in Europa auf gepackten Koffern sitzen, weil sie nicht wissen, wie lange sie den Hass noch ertragen können, sind manche „Experten“ primär darum bemüht, das Phänomen Antisemitismus zu verrätseln und definitorisch in der Schwebe zu halten.
So scheinen viele Akademiker, nicht zuletzt in Deutschland, mehr um die Freiheit zur Hassrede besorgt, als um die Freiheit von jüdischen Studierenden, die aus Furcht vor dem selbstgerechten Mob, der die Campus von Universitäten bevölkert, die Uni meiden, sich exmatrikulieren, einfach nur noch wegwollen, aber wohin? Als skandalös wird oft weniger der Antisemitismus als vielmehr dessen Skandalisierung empfunden. Wie oft in der Geschichte wird Gewalt gegen Juden in den Vorwurf des Antisemitismus projiziert, als „Angriff auf die Kunst- oder Wissenschaftsfreiheit“. Als wäre nicht der dämonisierende Boycott israelischer Künstlerinnen und Forscher das Problem, sondern der in Unis und Kulturinstitutionen nach wie vor seltene Boycott der Boykotteure. Viele scheinen den Antisemitismusvorwurf jedenfalls schlimmer zu finden als den Antisemitismus selbst.
Was das Entsetzen vieler Juden über die Gewalt des 7. Oktober und die antisemitischen Ausschreitungen auf dem Planteten verstärkt, sind der Umstand mangelnder Solidarität, das laute Schweigen und die Gleichgültigkeit weitester Teile der Mehrheitsgesellschaft. Für Jüdinnen und Juden bedeutet 10/7 eine langfristig doppelte Verunsicherung: Sowohl das Leben in sämtlichen Ländern der Diaspora, als auch jenes im vermeintlichen Nothafen Israel ist seit dem 7. 10. gefährlicher geworden. Wo soll man noch hin, lautet die drängende Frage, wenn das Ressentiment in Gewalt umschlägt, in jedem Weltwinkel Ungemach droht, genauso wie aus jeder politischen Richtung?
Denn auch das ist eine der verstörenden Erkenntnisse, die 10/7 nochmals aktualisiert: Weite Teile der heutigen Linken, die von postkolonialen Diskursen geprägt sind, sind dermaßen ideologisch verbohrt, das nicht einmal die Abschlachtung jüdischer Kinder ihr radikal zweigeteiltes Weltbild erschüttert, in dem es keinen Platz für Graustufen gibt.
Denn postkoloniale Theoretiker:innen predigen in der Regel eine „manichäische Teilung“ zwischen dem oppressiven Okzident hier und dem unterdrückten globalen Süden dort. Die Verfolgungsgeschichte der Juden und ihre nach wie vor leidvolle Gegenwart haben in dieser an der „Colourline“ vollzogenen Grenzziehung keinen Platz. Antisemitismus wird, wenn überhaupt, nur als eine Subform von Rassismus begriffen. Oder als eine Diskriminierung, die bloß während der Zeit des NS-Regimes bestand, und deren Opfer heute eben nicht mehr die „weißgewordenen“ Juden, sondern die „orientalisierten“ Araber seien. So sieht es etwa der Altvater des Postkolonialismus, der US-Amerikaner Edward Said.
Israel gilt gegen die historischen Fakten als siedlerkolonialer und künstlicher Staat – als wäre nicht jeder Staat ein künstliches Gebilde. Auch das unzweideutig antisemitische Motiv vom „wurzellosen Bösen“, das die Volkskultur zersetzt, prägt viele postkoloniale Debatten, die wiederum sehr viele Hochschulen prägen. Die von überall her geflüchteten Juden– ob äthiopisch, aschkenasisch oder misrachisch – werden hier als „weiße“ Kolonialherren verteufelt. Dass in Folge des panarabischen Angriffskrieges auf das frisch gegründete Israel 1948 nicht nur 700.000 Palästinser:innen von Flucht und Vertreibung betroffen waren, sondern auch 900.000 Jüdinnen und Juden ihre arabischen Heimatländer verlassen mussten, wird im antizionistischen Diskurs nicht erwähnt. Auch dass Israel in erster Linie ein antikolonialer Flüchtlingsstaat ist, und mit kolonialer Ausbeutung wenig zu tun hat, wird in diesem ambiguitätsfeindlichen Denken unterschlagen.
Dabei ist der Übergang von einer Lesart, die Israel als kapitalistisch-imperialistisches Kolonialprojekt verfemt hin zu einem Verschwörungsglauben, der hinter Imperialismus und Kapitalismus grundsätzlich „den Juden“ vermutet, in Theorie und Praxis durchaus fließend. In der Agitation sogenannter propalästinensischer Protescamps, die an zahlreichen Unis ins Kraut geschossen sind, gerinnt der Kampf gegen den bösen Zionismus oft zum Kampf für die Befreiung der Menschheit. Die zum Fetisch avancierten Palästinenser gelten hier als Avantgarde im Kampf für das Gute. Ein regionaler Konflikt zwischen Bevölkerungsgruppen bekommt eine heilsgeschichtliche Bedeutung. Auf den erhofften Sieg der Palästinenser gegen die israelische Besatzungsmacht wird der Wahnglaube einer Befreiung der Menschheit von einem vermeintlich global agierenden Zionismus projiziert. Der Weltverschwörungsmythos klingt hier unverhohlen an, erlösungsantisemitischer Wahn wird für jede und jeden offenbar.
Zwar gibt es nicht zuletzt im deutschsprachigen Raum auch eine laute antisemitismuskritische Linke, die Judenhass in Theorie und Praxis bekämpft. Diese ist seit dem 7. Oktober nach jetzigem Stand nicht kleiner geworden. Doch leider auch nicht größer, wie es aktuell scheint. Analyse und Kritik des Antisemitismus sind nach wie vor kein wesentlicher Teil der dominierenden linken Theorieproduktion. Anstatt, dass 10/7 ein Fanal gewesen wäre, um das Weltbild der wirklichen Welt anzupassen, scheinen viele sogenannte progressive Geister sich noch tiefer in ihrem theoretischen Weltimitationsgewölbe zu verbunkern als bislang. Die kurze Offenbarung der moralischen Schwächen ihrer unterkomplexen Betrachtung der Welt hat eine narzisstische Kränkung befördert, die die Abwehr der Wirklichkeit noch intensiviert und den Wunsch erzeugt, sie wieder in die Theorie einzusperren, aus der sie am 7. 10. zu entkommen drohte. Paradoxerweise muss man dieser Tage konstatieren: Viele postkoloniale „Linke“ werden den Juden den 7. Oktober nicht vergeben können, so wie Deutsche oft den Juden die Shoah übelnehmen, die sie zu Nachfahren des Tätervolkes macht.
Mithin gilt heute insgesamt abermals das, was der Schriftsteller und Holocaustüberlebende Jean Améry schon nach dem Sechs-Tage-Krieg feststellen musste: Das weite Teile der weltweiten Linken nicht bereit sind, mit Juden Empathie aufzubringen. So fühlen sich nicht zuletzt linksstehende Juden, wie die Soziologin Eva Illouz, seit dem 7. Oktober oft schmerzlich allein. Vielen von ihnen beginnt nun zu dämmern, dass die Revolution ihrer vermeintlichen Genossinnen nicht ihre ist, ja nicht sein kann, weil die Welt, die die heutige Linke sich wünscht, für Jüdinnen und Juden keine bessere ist, im Gegenteil, sie wäre noch schlimmer als diese.
Man sollte indes niemals den Fehler begehen, auf der rechten Seite nach Hilfe zu suchen. Zwar gerieren sich rechtspopulistische Akteure aus taktischen Gründen manchmal israelfreundlich – vor allem, um ihrer hassgetränkten Agitation gegen Migranten mehr Nachdruck zu verleihen, ihren dumpfen Rassismus zu nobilitieren und Juden und Muslime gegeneinander auszuspielen. Gleichzeitig aber rezitieren sie konstant antisemitische Verschwörungsnarrative, etwa mit dem Mythos vom „großen Austausch“, der die Migranten aus muslimischen Ländern zu stumpfen Objekten eines heimlichen Plans von als jüdisch gelesenen Eliten erklärt. Antisemitismus ist das Tiefenfundament im ideologischen Gebäude (neu)rechter Akteure. Man darf sich keine Illusionen machen: Das Erstarken rechtspopulistischer Akteure, von der AfD und ihren Schwesterparteien, ist für Jüdinnen und Juden eine riesige Gefahr, genau wie für Muslime und andere Minderheiten.
Judenhass ist letztlich ein Querfrontphänomen, er formt eine illustre Empörungsgemeinschaft. Scheinbar widersprüchliche Akteure finden sich im Hass auf „den Juden“ zusammen. So befürwortet die Nazi-Partei NPD, die sich inzwischen in „Die Heimat“ umbenannt hat, die sich progressiv wähnende Bewegung BDS, die zum Boycott gegen Israel aufruft. Postkolonial inspirierte Studierende, etwa an der Columbia University, verehren die Quassam-Brigaden der Hamas und preisen die Märtyrer der Mordbataillone. Radikale Islamisten und völkische Faschisten sind ohnehin vereint in ihrem Hass auf Frauen, Demokratie und „die Juden“ als „dunklem Prinzip der Moderne“.
Antisemitismus kommt überall vor, rechts und links und in der Mitte der Gesellschaft, in der Schule, der Uni, im Verein, und im Büro, in der Kirche, der Moschee und im bourgeoisen Feuilleton. Die Ereignisse in Israel und in Palästina haben unserer vielfach zerklüfteten Gesellschaft eine weitere sichtbare Trennlinie beschert, die quer zu ihren übrigen Frakturen verläuft. Zwischen den Hardcore-Judenhassern und Tendenz-Antisemiten auf der einen, formt sich ein Lager auf der anderen Seite, das Antisemitismus als solchen benennt. Auch wenn die Kritik oft vergeblich zu sein scheint, kennt die Aufklärungsarbeit keine Alternative. Man muss sich also weiter um jene bemühen, die keine geschlossenen Weltbilder haben, auch wenn man hier Sisyphos-Arbeiten verrichtet.
Auch sollte man sich trotz und wegen allem, was geschieht, trotz der furchtbaren Folgen des 7. Oktober für jüdische Menschen überall auf der Welt, und natürlich auch für zahlreiche Menschen in Gaza, für einen langfristigen Frieden engagieren, das heißt jene moderaten israelischen und palästinischen Kräfte, die noch immer an die Möglichkeit einer Koexistenz glauben, zum Dialog motivieren. Man darf sich vor dem Leid der Palästinenser nicht verschließen, muss aber auch verdeutlichen, dass dieses Leid nicht bloß Israel anzulasten ist, sondern vielfach auf die Kappe von Akteuren wie Hamas geht, die sich bei nicht wenigen Menschen der Region nach wie vor großer Beliebtheit erfreut – und das obwohl sie einen maßgeblichen Beitrag dazu leistet, dass ein Staat Palästina bislang nicht existiert. „Propalästinensisch“ müsste mithin bedeuten, zwar gegen die fundamentalistischen Teile der jüdischen Siedlerbewegung und die Regierung Netanjahu zu protestieren, doch auch gegen die Gräuel des politischen Islam. Wer „für Palästina“ und nicht bloß „gegen Israel“ ist, müsste der Hamas eine Kriegserklärung machen. Proisraelisch und propalästinensisch sind keineswegs antagonistisch zu verstehen, auch wenn das in der aktuellen Lage so erscheint. Ein Frieden ist möglich, wenn auch kompliziert. Eine ambiguitätstolerante Betrachtung ist die mentale Voraussetzung dafür. Einer redlichen Kritik an Politikformen Israels, die nicht von Antisemitismus geprägt ist, von Dämonisierung, Delegitimierung, Derealisierung und doppelten Standards, können auch Antisemitismuskritiker stets mit offenen Ohren begegnen.
Dem tendenziell antisemitischen Geraune, das weite Teile des Diskurses zum Nahostkonflikt grundiert, manchmal ohne, dass die Leute verstehen, was sie sagen, gilt es indes lautstark entgegenzutreten.